4 Jahre Aufdeckung der NSU-Morde – Podiumsdiskussion zum Stand der Aufarbeitung

Anlässlich des vierten Jahrestages der unfreiwilligen Aufdeckung der NSU-Mord- und Terrorserie sowie der weiterhin vielen unbeantworteten Fragen in diesem Zusammenhang, hat der Türkische Bund in Berlin-Brandenburg (TBB) in Zusammenarbeit mit dem Kurdistan Kultur- und Hilfsverein e.V. (KKH) sowie dem Bildungswerk Berlin der Heinrich Böll Stiftung im Haus der Demokratie und Menschenrechte die Veranstaltung “NSU-Morde und Rassismus in Deutschland” durchgeführt. Rund einhundert Gäste besuchten die von Hetav Tek moderierte Veranstaltung.

Mit ihren Grußworten übten die beiden Vereinsvertreter Dr. Şükri Güler (KKH) und İlker Duyan (TBB) Kritik an der Bundesregierung und insbesondere der Bundeskanzlerin, die ihrem damaligen Versprechen nach rückhaltloser Aufklärung bislang nicht nachgekommen ist. Vor allem der kritische Blick in die Institutionen hinein, auf deren strukturelle Mechanismen, die nachweisliche von rassistischen Praxen geprägt sind, bleibe aus, so Duyan in seinem Statement.

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Regisseurin Soleen Yusef, die von der Süddeutschen Zeitung beauftragt wurde in Kooperation mit der  Filmakademie Baden-Württemberg, der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg und der UFA Fiction, die original Protokolle des NSU-Prozesses filmisch aufzubereiten, führte dem Publikum Ausschnitte aus den ersten beiden Teilen der insgesamt beabsichtigten vierteiligen Serie vor. Vier Schauspielerin*innen stellen die Situationen im Gerichtssaal auf beeindruckende und einfühlsame Weise nach. Die Videos können Sie hier einsehen: Der NSU-Prozess: Das Protokoll des ersten Jahres und Der NSU-Prozess. Die Protokolle des zweiten Jahres.

Das Podium war mit Barbara John (Ombudsfrau für die Opfer des NSU), Antonia von der Behrens (Nebenklagevertreterin im NSU-Prozess), Eike Sanders (NSU-Watch), Daniel Bax (TAZ) und Safter Çınar (TBB) umfassend aussage- und einschätzungskräftig besetzt.

Wie geht es den Familien?
Hätte nicht ein aufmerksamer Rentner in Eisenach am 04.11.2011 die Polizei auf einen Wohnwagen und zwei Männer, die im Zusammenhang mit einem Banküberfall des selben Morgen gesucht wurden, hingewiesen, wäre die zufällige Aufdeckung des Terror-Trios wohl nicht erfolgt und die Polizei und andere staatliche Institutionen würden weiterhin die Angehörigen der Opfer und ihre sozialen Umfelder kriminalisieren, so John. Für die Familien markiere der 04.11. daher einen Wendepunkt in der Verarbeitung der Verbrechen. Seit diesem Tag ist bewiesen, dass weder sie noch ihre getöteten Familienangehörigen kriminell waren.
Seither haben sich die Angehörigen stabilisiert und konnten die aufgekommenen Zweifel an der Unschuld überwinden, legte John in ihren Schilderungen dar.


Wie verläuft der Prozess?
Rechtsanwältin von der Behrens sieht keinen Zweifel an der bewiesenen Schuld der fünf in München Angeklagten. Sie geht auch davon aus, dass bei Beate Zschäpe die besondere Schwere der Schuld festgestellt wird, sodass keine Möglichkeit der vorzeitigen Haftentlassung erfolgen kann.
Erschreckend sei immer wieder zu erleben, so von der Behrens weiter, dass einige Polizisten und Staatsschützer*innen die Ermittlungen weiterhin rechtfertigen und bei sich keine Fehler im Vorgehen erkennen können.

Eike Sanders, die mit ihren Kolleg*innen von NSU-Watch als einzige unabhängige Beobachtungsstelle den Prozess in München in voller länge beobachtet, protokolliert und dokumentiert, verwies auf die Recherchearbeiten von NSU-Watch sowie die gewonnenen Erkenntnisse während des Prozesses, die den Schluss erzwingen, dass die Mord- und Terrorserie nicht allein von drei Personen durchgeführt worden sein kann. Aber, so die Einschätzung Sanders, der Prozess soll nicht politisch sein. Wie auch von der Behrens bestätigte, unterbindet die Bundesanwaltschaft regelmäßig Versuche der Nebenklagevertreter*innen, die Perspektive des Komplexes zu weiten und auch die Rolle der staatlichen Institutionen, insbesondere des Verfassungsschutzes zu beleuchten.

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Welche Rolle spielten und spielen die Medien?
Journalist Bax räumte ein, dass “die Medien” die vorgetragenen Verdachtsmomente, dass es sich um rechten Terror handeln könnte, zu lange nicht ernst genommen haben und es auch unterließen eigene Recherchen anzustellen. Ebenso sprach er an, dass die Verlage und Zeitungsredaktion sich bislang nicht für ihre diffamierende Wortwahl gegenüber den Angehörigen und den migranten Communities insgesamt entschuldigt haben.
Als Erkenntnisgewinn für “die Medien”, konstatiert Bax die verbreitete Einsicht, dass mehr Diversität in Redaktionen nötig sei.

Was ist weiterhin nötig?

Unverständnis und harte Kritik übte Çınar an Generalbundesanwalt Dr. Peter Frank, der sich konsequent weigere die Ermittlungen auszuweiten, gleichwohl die Erkenntnisse, dass der NSU nicht nur aus drei Personen, bzw. den fünf Angeklagten bestanden haben kann, nicht mehr zurückgewiesen werden kann.
Ein Vergleich schloss die Ausführungen von Çınar ab. Er verwies auf die schnelle, hartnäckige, umfassende und konsequente Verfolgungs- und Aufklärungsarbeit der Bundesrepublik gegenüber dem Linksterrorismus der Roten Armee Fraktion und dem aktuell zurückhaltendem Aufklärungswillen gegenüber dem rechtsterroristischen Komplex.