Die Bundesregierung weigert sich beharrlich, das Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH), wonach eine Sprachprüfung vor der Erteilung von Einreisevisa für den Familiennachzug für türkische Staatsbürger*innen nicht zulässig ist, umzusetzen (EuGH-Urteil vom 10. Juli 2014, Rechtssache C 138/13).
Die Türkische Gemeinde in Deutschland hat hiergegen Beschwerde bei der Europäischen Kommission eingelegt.
Diese Beschwerde wurde von Rechtsanwalt Ünal ZERAN (Hamburg) formuliert.
Rechtsanwalt Zeran erklärte: „Die Bundesregierung hält ein europarechtswidriges Einwanderungskonzept beim Ehegattennachzug weiter aufrecht, wovon alle Drittstaatsangehörigen betroffen sind. Bei türkischen Staatsangehörigen ist das Spracherfordernis zudem eine diskriminierende Behandlung und zugleich ein Verstoß gegen das Assoziationsrecht. Es bleibt zu hoffen, dass bei der erforderlichen gesetzlichen Änderungen in Folge des Urteils sich die sachlichen Argumente durchsetzen werden.“
Die Bundesregierung ist sich nicht zu schade, einzelne Sätze aus dem Zusammenhang des Urteils herauszunehmen und in ihrem Sinne umzudeuten. Dabei beruft sie sich auf die Randnummer 38 der Urteilsbegründung, die einige allgemeine Betrachtungen enthält, aber im Tenor des Urteils keine Erwähnung findet.
Daraus leitet die Bundesregierung ab, „dass dem ausländischen Ehepartner grundsätzlich nur zumutbare Bemühungen zum Spracherwerb abverlangt werden dürfen, die den zeitlichen Rahmen von einem Jahr nicht überschreiten.“
Die neue Regelung widerspricht dem unzweideutigen Tenor des EuGH-Urteils, das besagt, dass die Einführung der Sprachtest vor der Visaerteilung beim Familiennachzug der sog. Stillhalteklausel des Assoziationsabkommens EU-Türkei widerspricht und deshalb nicht zulässig ist.
Hierzu erklärte der Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Safter Çınar: „Dieses Verhalten ist hart an der Grenze der Rechtsverweigerung. Wir hoffen, dass die EU-Kommission jetzt dafür sorgt, dass das Urteil des EuGH ohne Wenn und Aber umgesetzt wird.“
Çınar kritisierte auch das Verhalten von zuständigen Politiker*innen auf Bundes- und Landesebene, die seinerzeit das Urteil begrüß hatten.
„Wo bleibt die politische Reaktion von Personen, die kurz nach dem EuGH Urteil die Abschaffung dieser Regelung für geboten hielten“, fragte Çınar abschließend.
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In seinem besagten Urteil hat der EuGH unter anderem ausgeführt (EuGH-PM Nr. 96/2014 vom 10. Juli 2014):
„(…)
Frau Dogan erhob hiergegen Klage beim Verwaltungsgericht Berlin (Deutschland). Dieses hat dem Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob das seit 2007 in Deutschland geltende Spracherfordernis mit dem Unionsrecht und insbesondere mit der sog. Stillhalteklausel vereinbar ist, die Anfang der 1970er Jahre im Rahmen des Assoziierungsabkommens mit der Türkei vereinbart wurde. Diese Klausel verbietet die Einführung neuer Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit.
In seinem heutigen Urteil antwortet der Gerichtshof, dass die Stillhalteklausel einer nationalen Regelung entgegensteht, die eingeführt wurde, nachdem diese Klausel in dem betreffenden Mitgliedstaat in Kraft getreten ist, und vorschreibt, dass der Ehegatte eines in diesem Staat wohnenden türkischen Staatsangehörigen, um zum Zweck der Familienzusammenführung in das Hoheitsgebiet dieses Staates einreisen zu können, vor der Einreise nachweisen muss, dass er einfache Kenntnisse der Amtssprache dieses Mitgliedstaats erworben hat.
Ein solches Spracherfordernis erschwert nämlich eine Familienzusammenführung, indem es die Voraussetzungen für eine erstmalige Aufnahme des Ehegatten eines türkischen Staatsangehörigen im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats im Vergleich zu den Vorschriften verschärft, die galten, als die Stillhalteklausel in Kraft trat. Eine solche Regelung stellt eine neue Beschränkung der Ausübung der Niederlassungsfreiheit durch die türkischen Staatsangehörigen im Sinne dieser Klausel dar.“
„38 Auch wenn man davon ausgeht, dass die von der deutschen Regierung angeführten Gründe – die Bekämpfung von Zwangsverheiratungen und die Förderung der Integration – zwingende Gründe des Allgemeininteresses darstellen können, geht eine nationale Bestimmung wie die im Ausgangsverfahren fragliche über das hinaus, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist, da der fehlende Nachweis des Erwerbs hinreichender Sprachkenntnisse automatisch zur Ablehnung des Antrags auf Familienzusammenführung führt, ohne dass besondere Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden.“
„Für die zu fordernden Lernbemühungen des Antragstellers können sich unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit Einschränkungen sowohl aus dessen persönlicher Situation als auch aus den besonderen Umständen im Herkunftsland ergeben. Bei der Zumutbarkeitsprüfung sind insbesondere die Verfügbarkeit von Lernangeboten, deren Kosten, ihre Erreichbarkeit sowie persönliche Umstände (z.B. Krankheit oder Unabkömmlichkeit), die der Wahrnehmung von Lernangeboten entgegenstehen können, zu berücksichtigen. Von einer Unzumutbarkeit ist – bei Zugrundelegung der neuen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts – dann auszugehen, wenn Sprachkurse oder (erforderlichenfalls) Alphabetisierungskurse im betreffenden Land nicht angeboten werden oder deren Besuch mit einem hohen Sicherheitsrisiko verbunden ist und auch sonstige erfolgversprechende Alternativen zum Spracherwerb nicht bestehen.“)Schreiben des Auswärtigen Amts an RA Zeran vom 01.09.2014)
Tenor des EuGH-Urteils:
“Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls, das am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichnet und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 über den Abschluss des Zusatzprotokolls und des Finanzprotokolls, die am 23. November 1970 unterzeichnet wurden und dem Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei als Anhänge beigefügt sind, und über die zu deren Inkrafttreten zu treffenden Maßnahmen im Namen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde, ist dahin auszulegen, dass die darin enthaltene Stillhalteklausel einer Regelung des nationalen Rechts entgegensteht, die eingeführt wurde, nachdem das Zusatzprotokoll in dem betreffenden Mitgliedstaat in Kraft getreten ist, und vorschreibt, dass Ehegatten von in diesem Mitgliedstaat wohnenden türkischen Staatsangehörigen, wenn sie zum Zweck der Familienzusammenführung in das Hoheitsgebiet dieses Staates einreisen wollen, vor der Einreise nachweisen müssen, dass sie einfache Kenntnisse der Amtssprache dieses Mitgliedstaats erworben haben.“
Die Staatsministerin für Migration, Flüchtlinge und Integration, Aydan Özoğuz, hatte in einer Pressemitteilung vom 10. Juli 2014 das Urteil mit folgenden Worten begrüßt:
„Das Erlernen der deutschen Sprache ist für die Teilhabe an unserer Gesellschaft von elementarer Bedeutung. Die Bundesregierung stellt hierfür sehr viel Geld im In- und Ausland zur Verfügung. Wir wollen, dass alle Einwanderinnen und Einwanderer diese Angebote annehmen und rasch und gut Deutsch lernen.
Etwas anderes ist, ob man Sprachkenntnisse zur Voraussetzung dafür machen darf, ob Eheleute ein gemeinsames Leben in Deutschland führen dürfen. Der EuGH hat heute diese Diskussion zumindest für türkische Staatsbürger beendet. Man darf es nicht! Keine Überraschung, denn in gleicher Weise hat er schon die Regelungen in Österreich und den Niederlanden für unwirksam erklärt. Hier verzichtet man seitdem generell auf den Test.“
Ebenso hatten die Ministerin für Integration, Familie, Kinder, Jugend und Frauen in der SPD-geführten rheinland-pfälzische, Irene Alt (Bündnis 90/Die Grünen) und der Beauftragte der Landesregierung Rheinland-Pfalz für Migration und Integration, Miguel Vicente, in einer Pressemitteilung vom 10.7.2014 das Urteil begrüßt:
„Die bisherige Regelung hat es vielen Familien sehr schwer, wenn nicht sogar unmöglich gemacht, zusammenzuleben. Mit dem heutigen Urteil wird dem besonderen Schutz der Familie Rechnung getragen“.
Nicht zuletzt erklärte die sozialpolitische Sprecherin und stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion des Berliner Abgeordnetenhauses, Ülker Radziwill, am 10.7.2014: „Ich bin sehr froh, dass das Gericht hier Klarheit geschaffen hat und diese Regel nun entfällt“.