KliK-Workshop 4: „Mobilitätswende und gesellschaftlicher Wandel“

von Luise Flade und Simon Wöhr

(paper planes e.V. und Reallabor Radbahn e.V.)

20.2.2023

Modul 6 ­- Verkehrswende und nachhaltige Mobilität 

Es ist windig und regnet in Strömen. Am Himmel ziehen graue Wolkenfronten vorbei. An den Hinweisschildern zur Radbahn unter den Gleisen der U1 und U3 nahe Görlitzer Bahnhof treffen wir Luise. Zunächst führt sie uns durch das Testgelände der Radbahn in Richtung Kottbusser Tor, bevor ihr Kollege Simon uns in den Räumlichkeiten von Paper Planes und Reallabor Radbahn mehr über deren Aktivitäten erzählen wird. Luise will wissen, mit welchen Verkehrsmitteln wir angereist sind. Nachdem wir diese Frage beantwortet haben, meint sie, dass in Berlin mehr Leute Fahrrad fahren als im bundesdeutschen Durchschnitt und erklärt Details der geplanten Radbahn. Die Infrastruktur für Radfahrer*innen in Städten wie Amsterdam sei weiter entwickelt als in Berlin, weshalb sie in der Mobilitätswende eine Vorreiterrolle übernehmen.

Wir laufen in Richtung Kottbusser Tor. Dabei stellen wir fest, dass nicht nur überall geparkte Autos stehen, sondern Autofahrer*innen den Bereich unter der Bahntrasse auch nutzen, um den Stau auf der Skalitzer Straße links und rechts davon zu umgehen. Es ist Berufsverkehr. Wiederholt müssen wir Platz machen. Luise merkt an, dass die Radbahn ein Projekt des nationalen Städtebaus ist. Bald wird es zwischen Görlitzer Bahnhof und Kottbusser Tor eine mehrmonatige Testphase geben, während der die Strecke für Autos gesperrt und nur Radverkehr zulässig sein wird. Daneben sollen andere Dinge ausprobiert werden, etwa, ob es möglich ist, kanalisiertes Regenwasser für Büsche und Hecken auf beiden Seiten der Radbahn zu nutzen und welche Beleuchtungsarten sich im Praxistest bewähren.

Insgesamt beinhaltet das Radbahnprojekt nicht nur Ideen zur Verbesserung der Situation von Radfahrer*innen zwischen Oberbaumbrücke und Bahnhof Zoo. In Zusammenarbeit mit den Bewohner*innen unterschiedlicher Kieze soll es ebenfalls zu einer positiven Veränderung des Stadtraums insgesamt beitragen. Das Konzept der Radbahn beruht auf einem Partizipationsverfahren und findet in Kooperation bspw. mit Gewerben vor Ort statt. Vinh fällt auf, dass sich direkt neben uns eine Fahrradwerkstatt befindet. Er stellt sich vor, dass im Falle einer Realisierung der Radbahn weitere entsprechende Geschäfte entlang der Strecke geöffnet werden könnten. Luise ergänzt, dass auch gärtnerisches Wissen gebraucht würde, um die noch zu bauende Bahn über neun Kilometer hinweg zu begrünen. Zunächst seien jedoch eine Reihe von Hindernissen zu überwinden. So gilt es, u.a. Taubenlobbys, die in der Radbahn eine Bedrohung für die von ihnen geschützte Tierart sehen, von dem Vorhaben zu überzeugen.

Während wir die Strecke ablaufen, erzählt uns Valentina, dass sie sich lange mit dem Fahrrad durch die Stadt bewegt habe, dies aufgrund des aggressiven Fahrstils mancher Radler*innen in Berlin jedoch vor ein paar Jahren aufgegeben habe. Das findet Luise schade. Sie meint, dass sie selbst zwar gerne zügig Fahrrad fahre. Es sei jedoch ein Problem, dass im Straßenverkehr nicht ausreichend Rücksicht aufeinander genommen wird. Valentina fragt, wie sich das Problem der Straßenkreuzungen lösen ließe. Immerhin würde die geplante Radstrecke immer wieder von anderen, quer verlaufenden Strecken gekreuzt. Luise erwidert, dies sei eine Herausforderung, die sich durch neue Ampeln usw. bewältigen ließe.

Auf Luises Frage hin, welche Wünsche zur konkreten Gestaltung der Radbahn wir haben, macht Vinh den Vorschlag, zu beiden Seiten eine Schlemmermeile mit To-Go-Snacks und -Getränken zu etablieren. Später möchte Luise hören, was wir gerne auf und entlang der Strecke tun würden, um den Stadtraum anders zu nutzen. Sallaheddin denkt an Flohmärkte und Straßenfeste. Außerdem will er die Betonpfeiler unter der U-Bahn bunt bemalen. Valentina kommen Straßensketche in den Sinn. Luise ist sich sicher, dass immer Unerwartetes geschieht, wenn neue Räume entstehen. Sie sagt, dass es bereits vor der Eröffnung der temporären Teststrecke im Sommer am 1. April eine Feier geben soll, nach der die Radbahn für ein paar Wochen von einer Lichtinstallation beleuchtet sein wird. Außerdem sollen Podiumsdiskussionen stattfinden.

Nun brechen wir in Richtung der Räumlichkeiten von Reallabor Radbahn und Paper Planes in der Forster Straße auf. Auf dem Weg dorthin stoßen Bamba und Rodrigue zu uns. Es ist noch immer nasskalt und windig. Zum Glück hat es wenigstens aufgehört zu regnen. Im sogenannten Forsthaus begrüßt uns Simon. Er und Luise stellen Tee, Wasser und Säfte bereit. Wir nehmen an einem Konferenztisch Platz, auf dem ein uns zugewandter Flatscreen architektonische Skizzen zeigt. Dahinter beginnt Simon, seinen Vortrag zu weiteren Aspekten der geplanten Radbahn zu halten. Durch die darüber liegende Bahntrasse würden Radfahrer*innen vor Regen geschützt sein. Prägend für die Vision der Radbahn sei von Anfang an die Frage gewesen, was die Straße als öffentlicher Raum ist. Simon interessiert, was unser Eindruck wäre, wenn anstatt Autos Kühlschränke auf den Straßen geparkt würden. Alle lachen. Er erklärt uns, dass Autos streng genommen keine Fahr-, sondern Stehzeuge sind, da sie meistens geparkt und nicht bewegt würden. So gehe öffentlicher Raum verloren, der besser genutzt werden könne, etwa für nachbarschaftliche Tafeln. Sallaheddin rechnet uns vor, dass die weltweite Menge an Autos ausreiche, um den gesamten Planeten mehre Male zu umspannen.

Im Anschluss erläutert Simon, dass die auf die Charta von Athen (1933) folgende Segmentierung der Städte u.a. in Wohn- und Arbeitsviertel die Dominanz von Autos im öffentlichen Raum begünstigt habe. Gemeinsam mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und der Technischen Universität Berlin hat Paper Planes ein Buch veröffentlicht, in dem es um Alternativen zu dieser Tendenz geht: Im Manifest der freien Straße, das neben anderem Informationsmaterial auf dem Tisch vor uns ausliegt, sind entsprechende Gedanken formuliert worden. Der Verein will mit nachbarschaftlichen Initiativen zusammenarbeiten und die Bedarfe verschiedener Gesellschaftsschichten einbeziehen. So organisiert Paper Planes etwa Versammlungen und andere Events, um nebeneinander lebende Bürger*innen miteinander in Kontakt zu bringen und gemeinsam zu diskutieren, wie wir die Stadt bewohnen und uns in ihr bewegen wollen.

Den Abschluss des heutigen Workshops bildet eine offene Diskussionsrunde über die Inputs, die Luise und Simon uns gegeben haben. Stefan hofft auf eine Stärkung nachbarschaftlicher Netzwerke durch den Rückgang an Autos. Simon berichtet von einer Aktion, in deren Rahmen Tischtennisplatten auf gesperrten Parkplätzen vor den Vereinsräumen installiert wurden, die für ein paar Wochen nicht nur Kinder und Jugendliche zum Verweilen einluden.

Sophie unterstreicht, dass sich bereits durch wenige wegfallende Parkplätze viele neue Gestaltungsoptionen des Stadtraums auftun könnten. Irgendwann will Simon wissen, wer von uns ein Auto hat, was fast alle verneinen. Thanh gesteht, er fahre seit Kurzem wieder eines, was ihm ein schlechtes Gewissen bereitet, worauf Simon für Car Sharing plädiert. Als wir später die noch immer windige Stadt betreten, meinen wir, sie mit anderen Augen zu sehen.

Paper Planes e.V. / Reallabor Radbahn e.V.