„Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen.“
(Max Frisch, 1965)
Dieser oft zitierte Satz fasst gut zusammen, dass die Politik (nicht nur in der Schweiz) auf die Arbeitskräfteeinwanderung nicht als gesellschaftliches Ereignis reagiert hat.
Es gab aber auch weitsichtige Menschen:
„Viele von ihnen werden in Deutschland ein neues Leben aufbauen, sie werden dort Wurzeln schlagen und ihr Heimatland – nur noch als Gäste besuchen.”
(Theodor Marquard, Direktor der deutschen Verbindungsstelle Istanbul, 1966, aus: Geteilte Heimat. DOMIT. 2016)
Die Aussage von Max Frisch bringt die Erwartungen und Forderungen der Mehrheitsgesellschaft und der Politik an die damaligen „Gastarbeiter:innen“ unmissverständlich zum Ausdruck. Dass Menschen kamen, Menschen, die auch ihre Hoffnungen und ihre Erwartungen mitbrachten – und dann sich auch hier niederlassen würden, damit hatte man nicht gerechnet… oder vielleicht wollte man ja auch nicht…
Am 30. Oktober 1961 wurde zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik der Türkei unter Primat der Wirtschaft eine Vereinbarung über die Anwerbung Arbeitskräfte aus der Türkei getroffen. 60 Jahre nach der Unterzeichnung dieses Anwerbeabkommens wird nun das Engagement und der unübersehbare wirtschaftliche wie sozio-politische Beitrag der damaligen „Gastarbeiter:innen“ auf unterschiedlichen Veranstaltungen gewürdigt und man sagt ihnen: Danke!
Sie waren Arbeitgeber:innen und der damaligen „Ausländerpolitik“ ausgeliefert, weil ihre Aufenthaltserlaubnis an den Arbeitsplatz gekoppelt war. Sie haben unter schweren Arbeitsbedingungen gearbeitet, sie haben in den Baracken oder Heimen unter menschenunwürdigen Wohnverhältnissen leben müssen, weil ihnen zunächst kein angemessener Zugang zu Wohnungen gewährt wurde. Sie mussten ihre Kinder zwischen Deutschland und ihrer Herkunftsregion pendeln lassen, weil keine Betreuung für ihre Kinder vorgesehen war. Einige Jahre durften weder Ehepartner: innen noch Kinder mit- bzw. nachreisen, denn sie seien Gäste gewesen, die wieder gehen sollten.
So wurde jahrzehntelang die unsinnige Ideologie „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ gepredigt, obwohl Menschen seit Jahrhunderten hierherkamen oder während des Kolonialismus hierhin geschleppt wurden.
Trotz erlebter Diskriminierung, Diffamierung und Ausgrenzung haben die sogenannten „Gastarbeiter: innen“ es geschafft, in der hiesigen Gesellschaft Fuß zu fassen. Sie sind zu einem integralen, nicht mehr wegzudenkenden Bestandteil der bundesrepublikanischen Gesellschaft geworden, ohne ihre Identität bzw. Zugehörigkeiten gänzlich aufzugeben.
Ohne sie gäbe es keine Türeci, keine Aras, kein Özil, kein Akın, keine Özoğuz, und auch keine unzählige Busfahrer:innen, keine Architekt:innen, keine Lehrer:innen, keine Richter:innen, keine Staatsanwältin:nnen, keine Künstler:innen, keine Unternehmer:innen, keine Handwerker:innen, keine Putzkräfte, keine Ärzt:innen oder keine Bauarbeiter: innen.
Daher verdienen sie selbstverständlich alle diese Feste und Würdigungen.
Im Glanz dieser Feierlichkeiten darf jedoch nicht vergessen werden, dass die Versäumnisse der Politik Auswirkungen sowohl auf die damaligen „Gastarbeiter:innen“ als auch auf ihre nachkommenden Generationen hatten und immer noch haben… und zwar in fast allen gesellschaftlichen Bereichen: von persönlichem Alltag bis hin zum Arbeits- und Berufsleben. Einen nicht unerheblichen Teil der Probleme im Zusammenleben hat die Politik selbst erzeugt.
Zudem darf im Rahmen dieser Feierlichkeiten nicht unerwähnt bleiben, dass 60 Jahre nach der Unterzeichnung des Anwerbeabkommens mit der Türkei und 76 Jahre nach der Zeit des Nationalsozialismus türkeistämmige Bürger:innen dieses Landes und Bürger:innen anderer Herkunft aus rassistischen Gründen brutal angegriffen und sogar ermordet wurden und werden. Breit angesetzte Maßnahmen zur Bekämpfung alltäglicher rassistischer Gewalt und Diskriminierung bleiben weitgehend aus.
Aus diesen historisch geprägten und gegenwärtigen Gründen nimmt der Türkische Bund in Berlin-Brandenburg jenseits der Feierlichkeiten den Jahrestag des Anwerbeabkommens zum Anlass, um auf die Versäumnisse der Politik aufmerksam zu machen und in diesem Zusammenhang seine Forderungen für eine partizipative Migrationspolitik und für eine rassismussensible Gesellschaft zu betonen:
- Einführung des Kommunalwahlrechts für Drittstaatler:innen
- Reform des Staatsbürgerschaftsrechtes
- Ergänzend zur/m notwendigen Antisemitismusbeauftragte/n Einrichtung einer:eines Antirassismusbeauftragte:n
- Anerkennung religiöser Feiertage
- Zielgrößenregelung in der öffentlichen Verwaltung bei Einstellung und Beförderung
- Lückenlose Aufklärung aller rassistisch motivierter Anschläge und Morde
- Absolutes Ausweisungsverbot für in der Bundesrepublik geborene, hier aufgewachsene und lange Jahre lebende Menschen
- Anerkennung der Herkunftssprache als Regelfach in den Schulen
- Keine pauschalisierenden Darstellungen der migrantischen Communities in den Medien
- Uneingeschränktes Aufenthaltsrecht außerhalb der Bundesrepublik für Bürger:innen mit Niederlassungserlaubnis
- Akzeptanz der historisch gewachsenen, migrantisch geprägten Quartieren in den Städten und deren soziale Weiterentwicklung von innen
Unsere Forderungen:
Kommunalwahlrecht für Drittstaatler:innen
Hundertausende, langjährig in der Bundesrepublik lebende Menschen sind von jeglicher politischen Beteiligung ausgeschlossen. Hier müsste mindestens das (aktive und passive) kommunale Wahlrecht (sogar das Landtagswahlrecht) eingeführt werden. Dass bei EU-Bürger:innen die Gegenseitigkeit besteht, ist u.E. keine Gegenargument. Gegebenenfalls muss eine Grundgesetzänderung vorgenommen werden.
Reform des Staatsbürgerschaftsrechts
Nach der großen Einbürgerungsbereitschaft in den neunziger Jahren gehen wegen der ständigen Erschwernisse die Zahlen zurück. Hier geht es um eine Grundsatzentscheidung: Soll Einbürgerung ein Ergebnis der sogenannten „gelungenen Integration“ sein (wie es die herrschende Politik betreibt) oder ein Instrument sein, die Menschen in alle Bereiche der Gesellschaft einzubeziehen und ihnen zu zeigen, dass sie „gewollt“ sind. Der TBB tritt für schnelle Einbürgerungen ohne große Hürden ein: Einbürgerung muss trotz Arbeitslosigkeit und ALG II-Bezug, ohne Einbürgerungstests und unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit möglich sein.
Antirassismusbeauftragte/n, ergänzend zur/m Antisemitismusbeauftragte/n
Die Etablierung von Antisemitismusbeauftragte/n war ein richtiger, notwendiger Schritt. Angesichts des steigenden Rassismus und großen Handlungsbedarfes in der Bekämpfung von Rassismus ist eine Ergänzung durch Antirassismusbeauftragte:n auf Bundes- und Landesebene dringend geboten.
Anerkennung religiöser Feiertage
Deutschland ist kein religiös homogenes Land. Solange Deutschland den Anspruch erhebt, eine Vielfaltgesellschaft zu sein, muss es dem gerecht werden und wichtige religiösen Feiertage von Muslim:innen, Juden:Jüd:innen und anderen religiösen Minderheiten anerkennen.
Zielgrößenregelung in der öffentlichen Verwaltung bei Einstellung und Beförderung
Solange die Gesellschaft noch nicht soweit ist, ihre Vielfalt auch in ihrer Verwaltung abzubilden, benötigen wir Instrumente wie eine Zielgrößenregelung bei Einstellung und Beförderung. Hier müssen öffentliche Verwaltungen ihrer Verantwortung nachkommen und die Vorreiterrolle übernehmen.
Lückenlose Aufklärung aller rassistisch motivierter Anschläge und Morde
Rassistisch motivierte, antisemitische und extremrechte Gewalttaten müssen in die richtige Richtung ermittelt und lückenlos – mit möglichen Verbindungen und Versäumnissen staatlicher Stellen – aufgeklärt werden. Die Ermittlungen der Morde des nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) beispielsweise haben so oft die Täter-Opfer-Umkehr betrieben. So wurden die Opfer und deren Angehörige zunächst verdächtigt, in kriminellen Verhältnissen verstrickt zu sein, während die Täter: innen und ihre Helfer:innen die Freiheit genossen haben, von (anfänglichen/laufenden) Ermittlungen befreit zu sein. Auch die sogenannte Verdachtsfälle, wie der Mord an Burak Bektaş, bedürfen angemessener und rassismuskritischer Untersuchung bzw. Ermittlungen. Die Ermittlungsbehörden auf der Landes- und Bundesebene müssen in dieser Hinsicht für rassismuskritische Trainings/Fortbildungen etc. verpflichtet werden. Zudem muss eine aktive Erinnerungsarbeit an Opfer rassistischer Morde ermöglicht werden, damit die Hinterbliebenen sehen, dass sie Teil dieser Gesellschaft sind, ihre Trauer anerkannt wird und sie nicht als Täter*innen kriminalisiert werden.
Anerkennung der Herkunftssprache als Regelfach in den Schulen
Jahrzehntelang wurde die Förderung der Herkunftssprachen als ein sogenanntes Integrationshindernis betrachtet. Mittlerweile etabliert sich die Ansicht, dass genau das Gegenteil der Fall ist (Im Kita-Alter können Kinder eine Fremdsprache am besten erlernen – und profitieren ihr Leben lang davon). In manchen Bundesländern gibt es diesbezüglich Angebote. Ziel muss sein: Förderung der Herkunftssprachen in Kindertagesstätten und in der Grundschule, mit dem Ziel, diese als 2. bzw. 3 Fremdsprache als abiturrelevantes Fach wählen zu dürfen.
Keine pauschalisierenden Darstellungen der migrantischen Communities in den Medien
In den Medien wird Migration bzw. Migrant:innen überwiegend im negativen Kontext dargestellt. Es fehlt an positiven Vorbildern, sowohl für die Mehrheitsgesellschaft als auch für die migrantischen Communities. Denn nur durch positive Vorbilder kann den migrantischen Communities vermittelt werden, dass sie akzeptierter Teil der Gesellschaft sind. Die Medien sollten endlich von den pauschalisierenden negativen Darstellungen Abstand nehmen und Migration auch mit ihren positiven Facetten sichtbar machen. Dazu könnte ein rassismuskritischer und diversitätsbewusster Pressekodex etabliert und umgesetzt werden.
Absolutes Ausweisungsverbot für in der Bundesrepublik geborene, hier aufgewachsene und lange Jahre wohnende Menschen
Wer straffällig wird oder mit dem Gesetz in Konflikt gerät, hat die entsprechenden Konsequenzen zu tragen. In der Bundesrepublik geborene, hier aufgewachsene und lange Jahre lebende Menschen sind hier erst oder sekundär sozialisiert, sie sind Teil der Gesellschaft. Sie haben das Recht, nach Strafverbüßung weiterhin hier zu leben. Eine der Strafverbüßung folgende Ausweisung ist eine Doppelbestrafung.
Zeitlich unbegrenztes Aufenthaltsrecht außerhalb der Bundesrepublik für Bürger:innen (zumindest) mit Niederlassungserlaubnis
Es ist inakzeptabel, dass ein längerer Aufenthalt außerhalb der Bundesrepublik zum Verlust (auch einer gefestigten) Aufenthaltsgenehmigung führt (ausgenommen, wenn der Ausländer sich mindestens 15 Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und sein Lebensunterhalt gesichert ist). Diese Einschränkung der freien Entscheidung über den Aufenthaltsort und die Aufenthaltsdauer ist nicht zu begründen.
Akzeptanz der historisch gewachsenen, migrantisch geprägten Quartieren in den Städten und deren soziale Weiterentwicklung von Innen
Die mittlerweile historisch gewachsenen, verfestigten, migrantisch geprägten Quartiere insbesondere in den westdeutschen Innenstädten bilden einen sicheren Ort für die türkeistämmigen Communities. Diese Quartiere durch wohnungspolitische Maßnahmen auflösen zu wollen, wie es in Dänemark praktiziert wird, lehnen wir entschieden ab. Vielmehr müssen diese Quartiere durch besondere Zuwendungen weiterentwickelt werden.
Auch heute kommen Menschen aus der Türkei nach Deutschland – sei es im Rahmen der Familienzusammenführung, aus politischen Gründen, für künstlerische Zwecke, zu Studienzwecken, um eine Arbeit anzunehmen oder ein Unternehmen zu gründen… Damit sich aber die Fehler von früher nicht wiederholen, reicht es nicht aus, Versäumnisse von damals einzuräumen, sondern es müssen auch Schritte unternommen werden, um den Voraussetzungen und Herausforderungen einer Einwanderungsgesellschaft gerecht zu werden.
Der Bundesrepublik, einem Land mit Migrationshintergrund seit mindestens 60 Jahren, stünde eine bedingungslose Partizipation der Minderheiten sehr gut zu Gesicht. Auch wenn schon wichtige Schritte in die richtige Richtung unternommen wurden, sind wir leider noch meilenweit von einer partizipativen Gesellschaft entfernt.
Nur eine partizipative Gesellschaft würde einer Würdigung der ehemaligen Anwerbekräfte und der nachfolgenden Generationen gerecht werden…